Weißensee 6. Juni 2011

 

Gestern musste ich mir in Wien noch Spott und Hohn anhören, weil ich für zwei Tage Kärnten einpackte wie für eine Nordpolexpedition, heute bin ich froh, doch ein bisschen mehr mitgenommen zu haben. Das schöne Wetter in Wien, das gar keinen anderen Gedanken aufkommen hat lassen als kurz/kurz zu laufen, ist heute früh einem Regenwolken verhangenem Himmel gewichen und ich überlege nervös herum, ob und wie ich die Runde um den Weißensee nun in Angriff nehmen soll.

 

Aber der Reihe nach. Paula hatte eine Terminkollision. Einerseits sollte sie zur Firmvorbereitung das Wochenende gemeinsam mit den anderen Firmkandidaten im Seewinkel verbringen, andererseits war am Sonntag Abreise zu ihrer Schulsportwoche am Millstätter See. Die Rettung war rasch in Form ihres Vaters gefunden, der ohnedies noch ein paar Seen in Kärnten zu umrunden hatte und aufgrund des großen Arbeitsaufwandes im Büro in den letzten Monaten dringend Zeitausgleichsstunden abbauen musste.

 

Die Woche davor verlief läuferisch nicht optimal. Ich hatte mir neue Laufschuhe gekauft. An einer Stelle am Zehenballen, an der ich schon harte Haut hatte, kam es immer wieder zu Blasen. Irgendwann ging es nicht mehr und ich musste mir die harte Haut entfernen und legte unter der Blase weitere Blasen frei, bis ich irgendwann im Fleisch war. Das ganze musste nun in ein paar lauffreien Tagen schnell wieder heilen. Dann war ich mit Felix im Stadion. Conny und ich hatten ihm zum Geburtstag Karten für die EM-Qualifikationsspiele Österreichs geschenkt. Ich versuchte die Österreicher zu einem historischen Sieg über die Deutschen zu brüllen, was mir zwar nicht gelang, mir dafür aber am nächsten Tag Halsweh bescherte. Nach einem Testlauf am Samstag war aber klar, dass ich bis Montag wieder fit sein würde.

 

So holte ich Paula am Nachmittag in Apetlon ab und fuhr über Ungarn nach Seeboden. Obwohl wir dort kaum später als die anderen Klassenkollegen ankamen, waren schon zwei Verletzte zu beklagen (ausgekegelte Schulter, aufgeschnittener Arm). Also schnell das Kind abgeliefert und weitergefahren, damit ich mir nicht noch mehr Unheil anschauen musste.

 

Um halb Zehn kam ich endlich in Techendorf an und bezog mein Quartier direkt an der Laufstrecke. Den Weißensee kannte ich bisher nur im Winter. Bei einem Kärntner Schiurlaub in meiner Jugend fuhren wir auch an den Weißensee und ich machte hier meine ersten Langlauf- und Eislaufversuche. Am Weißensee gibt es ja auch einen ganz besonderen Ausdauerbewerb. Immer wenn in den Niederlanden die Grachten zugefroren sind, findet in der Provinz Friesland die Elf-Städte-Tour statt, ein Marathon-Eislaufbewerb über 200 km. Aufzeichnungen darüber gehen bis auf das 18. Jahrhundert zurück. Die erste offizielle Tour fand 1909 statt, mittlerweile wurde sie 15 Mal ausgetragen, zuletzt im Jahr 1997. Die Elf-Städte-Tour ist weniger Wettkampf als viel mehr Volksfest, was auch eher meinem Zugang zu Laufwettbewerben entspricht. Durch die immer wärmeren Winter, war es zuletzt immer seltener möglich, diese Traditionsveranstaltung zu organisieren, weshalb nun seit einiger Zeit die „Alternative Elf-Städte-Tour“ am Weißensee organisiert wird. So fallen jedes Jahr Ende Jänner Tausende von Holländern am Weißensee ein, um auf Schlittschuhen 10 Runden zu je 20 km zu drehen. Aber ich schweife ab.

 

Der Weißensee ist ja ein lustiger See. Eigentlich ist er gar nicht so groß, aber durch seine Schmalheit kommen bei einer Umrundung doch jede Menge Kilometer zusammen. Einerseits ist er so schmal, dass man, um vom Nord- zum Südufer zu gelangen gar nicht rundherum muss, sondern einfach über eine Brücke fahren kann; so was gibt's sonst nirgends, mit Ausnahme der Alten Donau, da gibt es auch eine Brücke, die die Obere Alte Donau von der Unteren Alten Donau trennt. Andererseits kann man vom Westufer auf Straßen nicht direkt zum Ostufer. Um von Techendorf zum Luftlinie nur 10 km entfernte Mösel am Ostende des Sees zu fahren, muss man einen Umweg von 60 km in Kauf nehmen. Zu Fuß geht es eine Spur einfacher, am Nordufer gibt es einen direkten Weg. Das Südufer ist aber nicht zugänglich.

 

Hier muss man etwas fern ab des Sees über die Bodenalm. Seenäher wäre nur der Weg über den 1.852 m hohen Laka, das wären aber allein fast 1.000 Höhenmeter. Paula hat ja gemeint, ich muss schon immer den seenähesten Weg wählen. Der Blick von Techendorf Richtung Osten bestätigte mir aber die Richtigkeit meiner Planung einfach nach Laufbarkeit vorzugehen. Der Laka ist nämlich augenscheinlich ein Berg, ich meine ein richtiger Berg, da würde ich laufend nicht drüber kommen.

 

Weißensee

Ich wurde mit einem Lichtschein durch den Vorhang geweckt. Die Hoffnung war daher groß, dass es ein sonniger Tag werden würde. Das täuschte aber, es war Hochnebel und der Himmel dadurch weiß und auch sehr hell. Nebelfetzen umhüllten die Berggipfel und es sah sehr regnerisch aus. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. In meiner Phantasie lief ich immer im strahlenden Sonnenschein auf die Alm und legte dort nur deshalb eine Pause ein, weil die Verlockung auf ein Speckbrot und ein Krügerl Most zu groß war. Gut, das mit dem Most hätte ich mir noch einmal gut überlegen müssen, wenn ich an die verdauungsfördernde Wirkung und die Folgen beim Weiterlaufen denke.

 

Also zuerst einmal frühstücken gehen. Das Wetter sollte laut Wetterbericht ja wechselhaft sein, vielleicht würde es ja danach besser ausschauen. Nach dem Frühstück sah es aber so aus, als ob es schon ganz leicht regnen würde. Im aktuellen Wetterbericht hieß dies Sprühregen. Ich überlegte nun, was ich anziehen sollte. Zog ich zuviel an, bestand die Gefahr, dass ich alles bei Wetterbesserung herumschleppen musste. Nahm ich zu wenig, würde ich bei Erschöpfungszuständen, und die Gefahr bestand angesichts der zu laufenden Runde wirklich, erfrieren. Ich würde mich dann nicht einmal retten lassen können, weil, wie oben erwähnt, weite Strecken des Sees nicht befahrbar sind und auch von der zufahrbaren Zwischenstation kein direkter Weg zurück nach Techendorf ging.

 

Zuwarten wollte ich aber auch nicht, das Wetter könnte ja noch schlechter werden und dann würde ich gar nicht mehr laufen können und warum wäre ich dann da. Irgendwann beschloss ich einfach zu laufen und jedenfalls eine Regenjacke mitzunehmen und im Ausgleich dafür die Kamera als Gewichtsreduktion da zu lassen. Die Handyfotos mussten genügen. Kaum verließ ich das Hotel wurde aus dem Sprühregen ein richtiger Regen und die Urlaubsgäste waren nur mehr mit Schirmen unterwegs. Das waren ja schöne Aussichten, mehr als 30 km im alpinen Gelände im Regen!

 

Durch die Brücke in Techendorf konnte ich mir noch überlegen, wo ich die Runde in Angriff nehmen wollte. Gleich über den Berg, solange es noch halbwegs ging und den einfacheren Westteil notfalls nach einer Regenerationspause nachholen. Oder zuerst den Westteil, dann könnte ich leicht abbrechen, falls es gar nicht ging oder versorgungstechnisch nachbessern, falls ich mich mit meiner Ausrüstung stark verschätzt haben sollte. Ich entschied mich für die ursprünglich geplante zweite Variante, damit würde ich auch den unattraktiveren Teil an der Straße gleich hinter mich bringen.

 

Mit der Attraktivität hatte ich mal nicht recht. Der Weg um den Westteil war abseits der Straße seenahe angelegt. Oft lief ich durch blumenreiche Wiesen, wenn ich Zeit und Lust gehabt hätte, hätte ich hier sicher einige Besonderheiten finden können. So genoss ich nur die allgemeine Schönheit. Auch die Beschilderung war sehr gut und ich musste meine mitgenommene Karte nicht verwenden. Irgendwann hörte es auch wieder zu regnen auf und es war jetzt wirklich ganz schön zu laufen.

 

Nach gut einer halben Stunde war ich am anderen Seeufer von Techendorf. Ans Aufhören verschwendete ich keinen Gedanken mehr und lief gut gelaunt weiter. Jetzt ging es an einer Straße, die aber kaum befahren war und einen eigenen Geh- bzw. Laufweg hatte, weiter. Kunstwerke an der Promenade machten das ganze etwas kurzweiliger. Es kamen auch schon die ersten Höhenmeter, aber jeder Höhengewinn wurde gleich wieder zunichte gemacht, weil der Weg im nächsten Moment wieder zurück ans Ufer führte. Zur Bootsanlegestelle Paterzipf kam ich nach einer Stunde. Der Weg führte nun vom See weg.

 

Zur Abwechslung regnete es wieder einmal. Bei der Abzweigung des Steiges auf den Laka schaute ich das einzige Mal auf die Karte, aber weniger, weil der Weg so schwer zu finden war, sondern nur aus Interesse, um Karte und Realität abzugleichen gewissermaßen. Mein Weg auf die Bodenalm war eine relativ gut ausgebauter Forststraße mit einer gleichmäßigen Steigung von ca. 10%. Das war gut kalkulierbar und ich erwartete keine Überraschungen in Form von plötzlichen Steilwänden oder Gegensteigungen. Es war auch noch nicht so steil, dass man meine Art der Fortbewegung nicht mehr als Laufen hätte bezeichnen können. Durch den Höhenmesser auf der Uhr wusste ich immer wie weit ich schon war und sah, dass ich gute Fortschritte machte.

 

Ich überholte auch ein paar wetterfeste Wanderer, dafür überholte mich einmal ein Traktor, sein Dröhnen war bereits eine Zeitlang hinter mir zu hören gewesen. Nach ca. einer halben Stunde war ich auf der ersten Alm, der Bodenalm. Die dortige Hütte war sogar trotz schlechtem Wetter bewirtschaftet, nur Pause wollte ich jetzt keine machen, wenn ich stehen geblieben wäre, wäre mir augenblicklich kalt geworden. Dafür kam jetzt ein sehr genussreiches Stück, weil es immer leicht bergab ging. Ein paar Mal musste ich über Viehgatter klettern und über eine Weide. Ich war sehr gespannt, wie die Rindviecher auf meine rote Regenjacke reagieren würden, aber sie waren unbeeindruckt.

 

Nach einer weiteren halben Stunde war ich über dem Berg und traf in Weißenbach auf die Straße, über die das Ostufer des Sees erreichbar war. Hier nahm ich mein erstes Gel. Ich fühlte mich zwar noch recht locker, aber so sollte es ja auch bleiben. Auf der kaum befahrenen Straße ging es weiter leicht bergab. Nach knapp zwei Kilometer ging links ein Wanderweg weg, mit dem man die Straße etwas abschneiden konnte. Ich war enttäuscht, dass das nicht, so wie ich das aufgrund der Karte vermutet hatte, eben von sich ging.

 

Als ich wieder zur Straße kam, sah ich, dass ich einem Fußpfad weiter folgen könnte. Ich entschied mich aber über ein kleines Brückerl über den Weißenbach auf die Straße zu wechseln, weil dies einfacher zu laufen war und Wanderwege hatte ich ja noch zurück nach Techendorf genug vor mir. Nach knapp zwei Kilometern traf ich wieder auf den Weißensee.

 

Nun musste ich erst mal meine Wasserreserven auffüllen. Zwar hatte ich schon genug Wasser von oben abbekommen, aber da es mittlerweile auch sehr schwül war, hatte ich auch sehr viel Wasser abgegeben. Ich fand am Parkplatz eine öffentliche Toilettenanlage. Beim Wasserhahn stand aber: “Kein Trinkwasser!“ Ich überlegte mir, ob das der „wir verschenken kein Wasser, komm lieber in ein Lokal und kauf dir was“-Trick sei, weil wo bitte soll in dieser natürlichen Umgebung überhaupt schmutziges Wasser her kommen. Oder würde es sich hier wirklich um gesundheitlich bedenkliches Wasser handeln. Ich entschied mal, mir den Trinkgurt anzufüllen, aber noch nichts zu trinken und nach weiteren Wasserspendern Ausschau zu halten. Sollte ich nichts finden würde ich, bevor ich verdurste, was trinken. Die Runde würde ich auf jeden Fall beenden können und wenn ich dann Magenkrämpfe bekomme, wäre mir das auch egal.

 

Ich bog nun in den Wanderweg ein. Bevor ich wieder die Zivilisation verließ, kam aber noch ein Campingplatz mit Strandbad. Die Kasse war logischerweise bei dem Wetter nicht besetzt, am WC fand ich nun auch Trinkwasser.

 

Weißensee

Der Weg war anfangs schön zu laufen und ich freute mich schon, ganz einfach wieder nach Techendorf zurück zu kommen. Aber schon bald wurde aus dem Weg ein schmaler Steig, der sich völlig unnotwendig wieder den Berg hinaufschlängelte. Nun musste ich zeitweise auch ein paar Schritte gehen, laufen war mir teilweise, vor allem, wenn es wieder bergab ging, zu gefährlich. Meine Knie zitterten doch schon ein bisschen, und bei einem Fehltritt würde ich entweder überknöcheln oder gar ausrutschen und etliche Meter in den See abstürzen. Sicherheitshalber nahm ich auch ein zweites Gel.

 

Der Großteil der Strecke war wenn schon anstrengend aber doch zu laufen. Bald kam die Brücke in Techendorf und damit das Ende der Runde wieder in Sicht. Der Weg schlängelte sich aber weiter am Ufer entlang und nach jeder Biegung sah die Brücke noch immer fast so weit weg aus wie zuvor. Erst als ich zum Gasthaus Ronacherfelsen kam, war schön langsam ein Ende in Sicht, jetzt waren es nur noch ca. fünf Kilometer. Mittlerweile kam sogar die Sonne heraus und ich konnte den Rest ohne Jacke fertig trotten.

 

Nach 35 km, 3 h 35 min und insgesamt 550 Höhenmetern war ich wieder zurück. Vermutlich war das meine bisher anstrengenste Seenrunde, wahrscheinlich noch schwieriger als der noch längere Wörthersee. Ich war doch etwas erschöpft. Nach einer heißen Dusche, etwas abrasten und nach Kaffee und Kuchen war ich aber wieder voller Tatendrang. Obwohl es wieder zu regnen begonnen hatte, fuhr ich noch zum Pressegger See. Im Tal würde das Wetter vielleicht besser sein und eine kurze Laufrunde würde schon noch gehen.

 

Am Pressegger See gab es aber einen wirklichen Wolkenbruch, so stark, dass sogar das Navi seinen Geist aufgab. Ich wartete ein paar Minuten im Auto und fuhr dann unverrichteter Dinge wieder zurück. Das wollte ich mir wirklich nicht antun. Gut war jedenfalls, dass ich meine Weißenseerunde nicht auf den Nachmittag verschoben hatte, bei strömendem Regen irgendwo in der Kleinen Steinwand zu hängen wäre sicher nicht lustig gewesen.

 

Beim Nachtmahl im Hotel wurde ich dann von einem älteren deutschen Pärchen (90% der Hotelgäste waren ältere deutsche Pärchen) angesprochen, dass ich beim Aufstieg auf die Bodenalm gesehen wurde. Das also waren die wetterfesten Wanderer. Bei der Rückfahrt von Mösel mit dem Schiff wurde ich aber vermisst. So musste ich also erzählen, dass ich nicht nur hin, sondern auch zurück gelaufen war und wurde somit zum verrückten Ösi, der um Seen läuft.