Mein erster Marathon

Vienna City Marathon 22. Mai 2005

 

Ab 4 Uhr konnte ich nicht mehr schlafen. Ich hatte gerade geträumt, dass ich alleine über die Ringstraße lief, wahrscheinlich waren schon alle im Ziel. Auf der Straße waren riesige Schlaglöcher, was soll ich sagen, richtige Gräben. Ich musste aufpassen nicht hineinzufallen ...

 

VCM 2005

Ich blieb bis 6 Uhr liegen und entspannte mich, so gut es ging. Dann frühstückte ich zwei Milch-brötchen mit Marmelade und Kaffee. und trank einen Liter Magnesiumlimonade. Ab 7 Uhr trank ich nichts mehr. Mit Felix, er wollte den Junior-Marathon laufen, ging ich um 8 Uhr weg. Conny mit Paula etwas später. Sie sollten zuerst Felix anfeuern, ihn dann im Ziel abholen und sich anschließend zu mir an die Strecke stellen.

 

Zuerst lieferte ich meinen Kleider- sack im Startgelände ab. Dann fuhren wir zum Start des Junior-Marathons in der Lassallestraße. Irgendwann fragte ich mich, warum wir eigentlich in der Sonne standen. Die Kappe schützte mich zwar schon ein bisschen, aber es war schon um 9 Uhr kaum auszuhalten. Wir suchten uns also ein Schattenplätzchen und sogen die Marathonstimmung auf. Als die Begleitpersonen aufgefordert wurden das Startgelände zu verlassen, verabschiedete ich mich von Felix und fuhr wieder zurück zum Marathonstart. Dort suchte ich ein Dixiklo. Da meine Verdauung aufgrund der Aufregung ein bisschen durcheinander war, waren die Büsche nicht sehr geeignet. Die Schlangen vor den WCs waren aber erträglich lang.

 

Danach holte ich mir Wasser, um kurz vor dem Start noch etwas trinken zu können. Ich hielt Ausschau nach Büschen für den Notfall und setzte mich in den Schatten, um auf den Start zu warten. Jetzt war ich eigentlich nicht mehr nervös, nur freudig erregt.

 

Das empfohlene Flüssigkeitsaufnahmeprogramm vor dem Start funktionierte. Ich brauchte keinen Busch mehr und war auch nicht durstig. Kurz vor halb 9 Uhr machte ich noch ein paar Alibiaufwärmschritte und begab mich in meinen Startblock. Auf der linken Seite der Wagramer Straße waren der Eliteblock und die Blöcke A1 bis A4. Auf der rechten Seite die Staffelläufer, dann A5, mein Block, die Gurkerlklasse und dahinter mit Abstand die FunRun-Teilnehmer (6,8 km - ohne Zeitmessung). Irgendwann ging dann eine Begeisterungswelle durch die Starter, ich hörte entfernt das Starthorn und dann zog sich die Menschenmasse auseinander auf die Reichsbrücke hinauf. Da war er nun der Moment, auf den ich acht Monate hingearbeitet hatte!

 

Die FunRun-Läufer hatten bald aufgeschlossen und drängten sich in die Marathonläufer. Ich war relativ rasch, schon nach knapp 3 min, auf der Startlinie und hörte zum ersten Mal das kollektive Piepsen der Zeitnehmungsmatte. Jetzt, nach zwei Wochen Tapering, einen langen Lauf in Angriff zu nehmen kam mir fast ungewohnt vor. Aber eigentlich hatte ich keine Zeit darüber nachzudenken, ständig musste ich zwischen den Leuten herumhupfen. Nachdem die Reichsbrücke Baustelle war, war es anfangs schon sehr eng. Aber irgendwie genoss ich es, beim Laufen einmal einen Stock höher als sonst auf die Donau zu blicken. Als endlich der erste Kilometer kam, konnte ich erstmals mein Tempo kontrollieren: 6:30. Ich hatte durch das Startgedränge schon eine Minute verloren.

 

Dann der schöne Blick hinunter auf die Lassallestraße die schon in der ganzen Länge bumvoll war. Ich spürte einen kleinen Stein im Schuh. Der war mir vorher beim Gehen nicht aufgefallen. Das ist der Nachteil, wenn man seine Laufschuhe nicht putzt. Kleine Gatschbröckerl trockenen in den Lüftungsnetzen und bröseln dann irgendwann in die Schuhe. Es ging aber und bald spürte ich nichts mehr. Auf dem zweiten Kilometer war schon weniger Gedränge, da lief ich, glaube ich, 6 min. Ab km 2 konnte ich unbehindert laufen. Ab jetzt war das Gedränge keine Ausrede mehr für schlechte Kilometerzeiten. Ich versuchte auf mein im Training geübtes Wohlfühltempo zu kommen. Aber schon die nächsten Kilometer zeigten mir, dass ich kaum unter 6 min kam. Ich war etwas überrascht. Ich dachte mir schon, die hätten die Kilometer zu lange ausgemessen, oder (wahrscheinlicher) ich im Training zu kurz. Das konnte aber auch nicht sein, denn bei den Vorbereitungswettkämpfen hat es ja auch gepasst. Ich wollte mich aber nicht nervös machen lassen. Wenn mir mein Gefühl sagt, es soll nicht schneller sein, dann werde ich das akzeptieren. Vielleicht ist es ja doch die Hitze. Es kam mir zwar jetzt beim Laufen nicht so arg vor, es war aber sicher mein heißester Lauf in diesem Jahr.

 

Bei km 5 stand meine Schwägerin Elisabeth und feuerte mich lautstark an. Meine Frage, ob Felix gut vorbei gekommen sei, konnte sie nicht mehr beantworten, ich war schon wieder weg. Eigentlich eine Zumutung, dass man von seinem Support-Team verlangt, sich wegen ein paar Sekunden Kontakt vier Stunden an die Strecke zu stellen.

 

Als ich zur ersten Verpflegungsstelle kam, hatte ich schon ganz schön Durst. Ich dachte mir, dass ein Leistungsabfall vielleicht auch vom Flüssigkeitsmangel kommen kann und trank statt dem geplanten Becher Wasser gleich zwei und zusätzlich zwei Becher Powerade, zusammen also ca. einen halben Liter. Und das schon nach 5 km.

 

Bei der Verpflegung gab es nur an den ersten Tischen Gedränge. Weiter hinten konnte man die Sachen ungestört nehmen. Überhaupt muss ich sagen war alles ganz gut organisiert. Zwei Becher trank ich im Vorbeigehen, zwei nahm ich mit und trank sie so gut es ging im Weiterlaufen. Der halbe Liter schwabbelte auch nicht im Magen und ich bekam auch keine Magenschmerzen, also dachte ich mir, das passt schon so. Die Wienzeile hinaus ging es dann auch nicht viel schneller. Ich versuchte immer möglichst im Schatten zu laufen. Die Feuerwehr am Gumpendorfer Gürtel hatte einen Wasserspritzer aufgestellt, da musste ich auch gleich durchlaufen.

 

Das Schloss Schönbrunn würdigte ich eines schnellen Blicks, dann kam die kurze Steigung hinauf zur Mariahilfer Straße. Oben war die nächste Verpflegung. Ich weiß nicht, ob mir wirklich so heiß war, oder ich mir nur dachte, es muss mir heiß sein, weil ich nicht schneller lief. Jedenfalls beschüttete ich mich bei den Schaffeln ordentlich mit Wasser. Weil das andere vor mir auch taten, war da schon eine riesige Lacke und die Füße wurden auch gleich nass. Und ich trank wieder drei Becher.

 

Dann ging es auf der Mariahilfer Straße bergab und ich dachte mir, jetzt läuft es so richtig. Vielleicht war die Verspätung, die ich aufgerissen hatte nur die bisherige Steigung gewesen. Die Mariahilfer Straße war dann auch die einzige Stelle, wo ich wirklich 5:30 erreichte, ohne mich übermäßig anzustrengen. Damit war mir aber auch klar, dass wenn ich 5:30 nur bergab laufen kann, es mit einer Zeit in der Nähe von 3 h 45 nichts werden kann. Ich müsste froh sein, falls überhaupt noch sub 4 gehen würde.

 

Auf der Mariahilfer Straße wollte dann ein Auto aus einer Parklücke wegfahren. Die Zuschauer, die überall brav standen, machten ihn mit dem bekannten Wiener Charme darauf aufmerksam, dass das jetzt nicht gehen würde. Die Worte kann ich hier nicht wiederholen, bei so vielen Schimpfwörtern verbiegen sich mir die Finger beim Schreiben. Weiter unten saß ein Jugendlicher mit leichter Schlagseite und Bierdose in der Hand auf einem Blechkasten und trommelte im Laufrhythmus. Auch wenn ihn die laufende Masse etwas befremdet haben musste, dachte ich mir, bei ihm eine gewisse Sympathie für die Läufer zu erkennen.

 

Bei km 15 hatte ich erst gut 3 min gegenüber einem 6er Schnitt herausgeholt. Zuwenig um unter 4 Stunden zu bleiben. Ich dachte trotzdem noch, schauen wir mal, obwohl mir schon klar wurde, dass sich sub 4 wahrscheinlich nicht ausgehen würde. Das wollte ich mir aber jetzt gar nicht einreden. Vielleicht gäbe es ja noch einen meiner bekannten Zielsprints.

 

Ab km 4 waren die extra gestarteten Halbmarathonläufer auf die Marathonstrecke getroffen und hatten sich zwischen die langsameren Marathonläufer gemischt. Mir waren die gar nicht aufgefallen und sie haben mich auch gar nicht gestört. Nur hin und wieder schlängelte sich einer durch. Die Halbmarathonis sahen das wahrscheinlich anders. Jetzt konnten sie schon ins Ziel abbiegen. Die Angst, dass es mich möglicherweise viel Überwindung kosten würde, weiterzulaufen wenn ich das Ziel sehe, war unbegründet. Eigentlich war ich froh, noch laufen zu dürfen. Dann kam schon die nächste Verpflegung. Ich wusch wieder mein Gesicht und trank einiges.

 

Bei km 16 sollte meine Familie stehen. Ich merkte aber, dass sich die Wechselzone der Staffelläufer viel weiter zog als erwartet und dass deshalb für den ausgemachten Treffpunkt kein Platz war. Ich suchte einfach dahinter den Straßenrand genau ab. Sie hatten wohl auch so gedacht. Conny und Paula hatten Felix eingesammelt, offensichtlich war alles gut gegangen. Elisabeth war auch da. Sie boten mir eine Flasche an, die ich ihnen aufgedrängt hatte, in der Angst, unterwegs nichts zu bekommen. Die Angst war natürlich unnötig, ich kam gerade von der Verpflegungsstelle, war noch voll und lehnte ab. Aber es war schön sie zu sehen und ich freute mich schon auf den nächsten Treffpunkt.

 

Die Liechtensteinstraße ging es großteils leicht bergab und es lief ganz gut. Ich fühlte mich hier sicher, weil ich dieses Stück nach einer Besichtigung der letzten Woche nun auch kannte. Bald kam die Rampe hinunter zum Donaukanal. Hier brannte die Sonne schon ganz schön. Die nächste Verpflegung kam wieder kurz vor dem Treffpunkt mit dem Supportteam. Nachdem ich bei der letzten Verpflegung die Bananen erst gemerkt hatte, als ich schon vorbei war, nahm ich mir jetzt vor, auch eine Banane zu nehmen. Das Ganze ging sich irgendwie gerade aus, ein paar Becher trinken, einen mitnehmen und mit der anderen Hand eine Banane krallen.

 

Die Zwischenzeit bei km 20-km sagte mir, dass ich noch immer nicht genug für sub 4aufgeholt hatte. Im Nachhinein betrachtet lief ich da gerade 5:40 pro km, also genau den sub 4 Schnitt, was ich am Anfang verloren hatte fehlte immer noch. Kurz danach kam die Halbmarathonmarke, da hatte ich eine Zwischenzeit von 2 h 01. Ich bräuchte also 1 h 59 für den zweiten Halbmarathon. Aber irgendwie dachte ich mir schon, es kommt wohl eher die Ermüdung, als dass ich das Tempo halten könnte und dann noch munter den Zielsprint ansetzen.

 

An der Salztorbrücke standen wieder Conny, Felix, Paula und Elisabeth. Getränk brauchte ich wieder keines, ich hatte ja gerade aufgegessen und getrunken. Also winkte ich nur fröhlich. An der Aspernbrücke gab es eine Radioübertragung. Da hörte ich, dass der Sieger gleich ins Ziel kommen würde. Der Überraschungsmann Mubbarak Shami aus Katar hatte sich abgesetzt und würde einen ungefährdeten Sieg feiern. Ab der Franzensbrücke sah ich dann auch weitere Spitzenläufer mir entgegenkommen. Die hatten so ca. 16 km Vorsprung auf mich. Einmal dachte ich mir Michael Buchleitner (wurde Achter und bester Österreicher) gesehen zu haben, das war aber eher eine Täuschung, der müsste wohl schon vorbei gewesen sein. Unverkennbar war aber Eva-Maria Gradwohl (wurde Zweite hinter der Ungefährdeten Florence Barsosio aus Kenia). Nachdem sie mir beim Wien Energie Halbmarathon im April zugelächelt hatte, revanchierte ich mich nun und spendete ihr Applaus. Ganz locker schaute sie nicht mehr aus, war das vielleicht doch die Hitze?

 

Ich erinnerte mich, dass jetzt die Strecke kam, die ich schon so oft bei meinen Homeruns (Lauf von der Arbeit nach Hause) gelaufen war. Da war ich aber immer noch frischer. Dann kam schon wieder eine Verpflegung. Ich wunderte mich, waren das schon wieder 5 km, bis mir einfiel, dass es ab km 20 ja alle 2,5 km Verpflegung gab. Da trank ich dann nur einen Becher Wasser. Kurz darauf kam ein Wasserspender, wo ich kurz meinen Kopf drunter hielt. Bei der nächsten Verpflegung beim Einbiegen in den Prater trank ich wieder ordentlich. Bei der Zwischenzeit bei km 25 hatte sich an meinem Schnitt nichts Wesentliches geändert. Beim Einbiegen in die Hauptallee kam mir dann schon eine breite Läufermasse entgegen. Die hatte nur noch 5 km Vorsprung. Dann kam schon wieder eine Verpflegung, das ging mir jetzt schön langsam auf die Nerven. Die Hauptallee zog sich ganz schön bis zum Planetarium.

 

Im Wurstelprater merkte ich zuerst, dass ich bisher immer ein falsches Eck gelaufen war, wenn ich die VCM-Strecke im Training testete. Entweder hatte ich den Plan falsch gelesen, oder es wurde kurzfristig geändert. Der Prater war sehr laut. Ich sah nicht ein, warum sich die Leute hier so ausgelassen vergnügten, während ich einen Marathon laufen musste. Dann plötzlich merkte ich, dass mir mein bisheriges Lauftempo schwer fiel ...

 

Mit einem Mal hatte ich keine Kraft mehr für meine Schritte. Zuerst wunderte ich mich noch. Das hatte ich mir aber anders vorgestellt. Dann bekam ich richtig Panik. Wenn mein Tempo weiter so rasch abnimmt, dann stehe ich in 500 Metern. Und ich kann gar nichts dagegen machen. Es war eine richtige Angst, fast so, als ob man fürchtet, einem geliebten Menschen könnte etwas passieren. Zum Glück war zumindest die Angst schnell wieder weg, die Kraftlosigkeit blieb aber.

 

Zum ersten Mal dachte ich mir, was wäre, wenn ich jetzt aufgeben muss. Es wäre nicht nur meine persönliche Niederlage. Conny stünde in der Stadionallee und ich würde nicht kommen. Im Internet könnte jeder sehen, dass ich es nicht geschafft hätte. Nach 500 m merkte ich, dass ich noch nicht stand. Aber jeder Schritt fühlte sich so an, als ob ich gerade noch einen schaffen würde. Jetzt hatte ich erst gut 28 km - und dieser Einbruch. Da ging es mir im Training bei diesen Entfernungen noch wesentlich besser. Oder lag das nur daran, dass es jetzt so aussichtslos war, weil ja noch so viel vor mir lag.

 

Inzwischen zappelte ich nur noch vor mich hin. Alles was ich im Training gelernt hatte war jetzt unnötig. Was half es mir, wenn ich wusste, dass eine aufrechte Laufhaltung ökonomischer sei, wenn ich nur noch gebückt laufen konnte. Die Kilometertafel 29 sah ich gar nicht mehr, nur noch die dazugehörige Markierung am Boden. Das Grundlagenausdauertempo, für das ich mich im Training mühsam einbremsen musste, war jetzt das höchste, das ich überhaupt schaffte, wenn überhaupt.

 

War das der Mann mit dem Hammer? Den hatte ich mir anders vorgestellt. Der würde doch auf einen einschlagen und einem beim Laufen Schmerzen bereiten. Schmerzen hatte ich gar keine sonderlichen, nur laufen konnte ich nicht mehr. Das war eher ein kleines Teufelchen, das mir ständig ins Ohr flüsterte: “Hör doch auf, hör doch auf, ...“

 

Also versuchte ich ein Notprogramm durchzuziehen. Dieses Tempo jetzt weiter laufen und nicht nachdenken. Ich musste mal soweit kommen, wie ich im Training schon war, also 31 km. Auf der Hauptallee sah ich dann das erste Mal Läufer entgegenkommen, die hinter mir waren. Das war aber auch nur ein schwacher Trost. Ich bog in die Nebenfahrbahn ein, weil ich da mehr Schatten vermutete und lief unter ein paar Spaziergängern weiter. Bei der nächsten Verpflegung trank ich nicht mehr im Laufen, sondern im Gehen. Das kam mir sehr gefährlich vor. „Wenn du einmal so anfängst, dann läufst du bald nicht mehr“, dachte ich mir. Mein einziges Ziel war jetzt nur noch bis ins Ziel zu laufen, gehen wollte ich um keinen Preis, die Zeit war mir vollkommen wurscht.

 

Die Schleife zum Stadion. Irgendwann kam ein Motorrad mit einer Kamera. Ich versuchte mich kurz aufzurichten und zu lächeln. Jetzt war ich zumindest bei km 31. Soweit war ich noch nie gelaufen. Aber es war ja noch so weit. Die Radioübertragung in der Hauptallee lenkte mich ab. Ich hörte die Berichte über das Rennen. Die Spitzenläufer blieben hinter den erwarteten Zeiten zurück, wegen der Hitze. Ja es war schon warm, ich hatte aber nicht das Gefühl unter der Hitze zu leiden, ich hatte nur keine Kraft. Dabei hatte ich ja nicht wenig trainiert. Wenn es dann nur für 28 km reicht, dann bin ich eben zu schwach für den Marathon und werde es nie lernen.

 

Irgendwann kam das Lusthaus. Dahinter war auch eine Zeitnehmungsmatte. Hier wurde aber keine Zwischenzeit genommen, die diente offensichtlich nur zur Kontrolle. Abkürzen hätte ich eigentlich nie wollen. Immer wieder Läufer, die an Bäume gelehnt dehnen. Dazwischen Läufer die zu Fußgängern geworden waren. Bei der Praterbrücke erinnerte ich mich, dass es von da nach Hause genauso weit sei wie ins Ziel. Wenn ich also jetzt nach Hause wollte, könnte ich ins Ziel auch gleich laufen. Ob ich bei der nächsten Verpflegung noch was genommen hatte, weiß ich nicht mehr, wenn, dann war es das letzte Mal. Ich wollte einfach nicht mehr anhalten und aus meinem Trott heraus. Außerdem hatte ich so viel getrunken und gegessen und es hat nichts genutzt. Die letzten Kilometer müssen jetzt auch so gehen, oder auch nicht.

 

VCM 2005

Hinauf die Stadionallee. Ich wundere mich, dass keine Läufer mehr in den Prater kommen. Bin ich so weit hinten? Ich erinnere mich, in einem Laufbericht von einem Schild gelesen zu haben: „Quäl dich du Sau.“ Das hätte ich jetzt nicht gebraucht. Eine Frau sitzt am Straßenrand und spielt Gitarre und singt schön dazu. Es freut mich. Schön langsam kann ich wieder nach Conny und Elisabeth Ausschau halten. Sie stehen oben an der Stadionbrücke, Felix und Paula fehlen auch schon, sie sind offensichtlich nach Hause gefahren. Der Gesichtsausdruck von Conny und Elisabeth sagt mir: „Oje.“ Sie feuern mich aber sicher noch genauso an wie früher.

 

Ich kapsele mich ein und laufe weiter. Km 37. Das gibt es ja nicht, eh nur noch 5 km, das muss ich doch schaffen. Dann ein Schild: „Gib alles!“ Das ist mir sympathischer. Ich tu was ich kann. Ich will alles geben. Jedes Futzerl Kraft, das in mir ist. Wenn die Kraft aus ist und ich bin noch nicht im Ziel kann ich auch nichts machen. Aber vorher bleibe ich nicht stehen! Positive Motivation. Bilder vorstellen vom Einlauf am Heldenplatz. Funktioniert auch nicht. Das einzige Bild das mich rettet ist die Vorstellung, dass ich mich nach dem Zieleinlauf in die Wiese schmeißen kann.

 

Km 39, nein erst km 38. Auch gut, nur noch 4 km. 4 km müssen doch gehen. Die Rampe zur Franzensbrücke. Es geht bergauf. Auch egal. Ärger kann es auch nicht mehr werden. Jetzt km 39. Nur noch 3 km. Das 3 km so hart sein können. Ich wechsle auf der Vorderen Zollamtsstraße die Straßenseite. So ist es kürzer. Das ist sicher kein unerlaubter Abschneider. Km 40. Noch 2 km. Ich bin mir nicht sicher, ob man nicht noch auf den letzten zwei Kilometern liegen bleiben kann. Am Ring stehen wieder Conny und Elisabeth. Sie schreien. Ich laufe noch.

 

Ob es am Ring bergauf geht weiß ich nicht. Ich sehe nur meine Fußspitzen. Meine Füße streifen gerade nicht am Boden. Meistens zumindest. Km 41. Noch 1 km. Ich muss es schaffen. Da vorne ist die Oper. Da ist was los. Die Leute schreien. Das Spalier ist ganz eng. Ich sehe gar nicht wo es weiter geht. Jetzt kann ich nicht mehr aufgeben. Es ist vielleicht nicht so toll wie man es immer hört, gerade beim ersten Marathon, aber fast. Km 42. Jetzt schaffe ich es. Ich biege auf den Heldenplatz ein. Ich mache noch einen Zielsprint, oder das was halt noch geht. Die schreien alle nur für mich! Geschafft!

 

Wenn ich besser weinen könnte, würde ich das jetzt machen. So weine ich nur fast, es drückt mich. Ich gehe weiter und bekomme meine Medaille. Eine Frau gibt mir eine Plastikfolie. Ein Mann fragt mich, ob er mich fotografieren darf. Wahrscheinlich schaue ich zu verdutzt. „Es muss auch nicht sein“, sagt er. „Nein, nein, geht schon.“ Im Inneren Burghof liegen einige Läufer. Josef Cap liegt auf einem Verpflegungstisch. Der ist doch ein guter Läufer, oder? Ich will hinaus, ich will im Gras liegen. Ich schnappe mir meinen Verpflegungssack. Beim Ausgang gibt es einen kleinen Stau. Ich will hinaus, ich will im Gras liegen. Conny treffe ich gleich, beim vereinbarten Treffpunkt beim Buchstaben C. Ich umarme sie. Ich will jetzt endlich im Gras liegen ...

 

VCM 2005

Im Volksgarten finde ich ein Plätzchen. Ach ja die Zeit. 4:17 irgendwas steht auf meiner Uhr. Das habe ich mir sogar noch schlimmer vorgestellt. Conny fragt mich, ob sie mir was holen soll. Ich bitte sie nur, mir meine Startnummer abzumontieren und damit den Kleidersack zu holen. Der Weg zurück zum Ring, wo die LKWs stehen kommt mir unendlich weit vor. Das würde ich jetzt nicht mehr schaffen. Ich nage ein bisschen an einem Apfel herum und trinke ein wenig. Das Essen tut mir im Mund weh, wahrscheinlich sind meine Schleimhäute durcheinander. Mir wird kalt und ich bin froh, dass ich Conny eine Windjacke mitgegeben habe.

 

Als Conny zurückkommt, können wir uns schön langsam wieder normal unterhalten. Sie erzählt mir ein bisschen was über das Rennen aus ihrer Sicht. Ich ziehe mir trockene Sachen an.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen bin. Irgendwann geht es wieder und wir machen uns nach Hause auf. Eigentlich ist ja alles gut gegangen. Ich hatte keine Krämpfe, wie so viele an diesem Tag. Ich hatte keine Blasen, keine Knie- oder sonstigen Gelenksschmerzen. Die Arme und Schultern hatten mir im Ziel ein bisschen wehgetan. Die hätte ich normaler Weise beim Laufen ausgeschüttelt, wenn ich es noch mitbekommen hätte. Aber das war auch gleich wieder vorbei. Nur die Kraft war weg, viel zu früh weg. Irgendwie bin ich zwar stolz es dennoch geschafft zu haben, aber doch auch enttäuscht, dass ich mein Ziel sub 4 so deutlich verfehlt hatte.

 

Ich glaube, ich muss es noch mal versuchen.