Wie der Zufall es will sitze ich im April in einer Tagung im Hotel Hilton Garden Inn in Wiener Neustadt. Schnell wird mir klar, dass ich mich damit auf dem Gelände des ehemaligen Wiener
Neustädter Brauhofs befinde, Grund genug also, noch ein Bier Jour fixe anzuhängen. Diese Brauerei zählt selbst bei Nachsicht aller Taxen nicht mehr zu den Wiener Brauereien. Auch waren ihre
Brauherren nicht im Wiener Brauherrenverein vertreten. Aber immerhin steckt „Wien“ im Namen, also drücken wir mal ein Auge zu. Die Brauerei ist einerseits außerordentlich gut in Wort und Bild
durch zwei Seiten dokumentiert (siehe die ersten beiden Links am Ende der Seite), andererseits gibt es sonst kaum Quellen im Internet, wodurch wieder jede Menge an Recherche notwendig wird.
Die erste Erwähnung eines Brauhauses in Wiener Neustädter datiert aus dem Jahr 1621. Damals beschwerten sich die Grundherren um Wiener Neustadt bei Kaiser Ferdinand II. und wollten eine
Schließung der Brauerei erwirken, vermutlich duldete man keine Konkurrenz zu den eigenen Weingütern. Dies unterblieb aber im Sinne der Biervielfalt zum Glück. Die Brauerei musste damals also
schon einige Zeit in Betrieb gewesen sein, das genaue Gründungsdatum ist daher nicht bekannt.
Situiert war die Brauerei auf Teilen des (nunmehr ehemaligen) Areals der Fa. Leiner in der Bahngasse. Später dehnte sich der Betrieb Richtung Osten auf ungenutzte Flächen der Zeughauskaserne
aus. Die Brauerei gehörte der Stadt und wurde auch von ihr betrieben. Ab 1735 verpachtete die Stadt die Brauerei. Der Bierausstoß konnte weiter gesteigert werden und brachte so ansehnliche
Einnahmen für die Stadtkasse. Um die Einnahmen weiter zu steigern wurde um 1820 dem Brauhaus genehmigt, einen eigenen Braugasthof zu betreiben. Weiters durfte in Wiener Neustadt nur Bier aus der
städtischen Brauerei ausgeschenkt werden. 1833 erweiterte der Betrieb abermals, diesmal nach Westen und bezog die „Kasematten“, eine Verteidigungsanlage an der Stadtmauer, mit ein.
1869 entschloss sich die Stadt, das Brauhaus zu privatisieren und in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Die Brauerei firmierte nun unter dem Namen „Aktiengesellschaft Wiener Neustädter
Brauhof“. Aktionäre waren die Agrarbank in Wien, Alexander Freiherr von Petrinó (Großgrundbesitzer und Ackerbauminister Österreich-Ungarns) und Wilhelm Klein (Direktor der Anglo-Österreichischen
Bank?).
Verwaltungsräte waren Adolf von Bernd (ehemaliger Offizier der k.u.k. Armee und Vater von Alexander von Bernd, späterer Inhaber der Schraubenfabrik Brevillier & Urban in Neunkirchen), der
Wiener Wirtschaftsrat Rudolf Chlubna, Franz von Furtenbach (die von ihm gegründete Wiener Neustädter Chemiefabrik Furtenbach besteht noch immer, weiters ist nach ihm auch die
Franz-Furtenbach-Straße in Wiener Neustadt benannt) sowie Dr. Karl Haberl (Rechtsanwalt und späterer Bürgermeister von Wiener Neustadt).
Um die für ganzjähriges Brauen notwendigen Temperaturen sicherstellen zu können, wurde ein Eisteich angelegt. Ende des 19. Jahrhunderts erreichte man einen Bierausstoß von 5.000 hl, zu jener Zeit
in etwa mit der Produktionsmenge des Hernalser Brauhauses in Wien vergleichbar.
1896 wurde Max von Bernd anstelle seines Vaters Verwaltungsrat. 1899 ersetzten sein Bruder Louis von Bernd, Rudolf Freiherr von Doblhoff (Schlossbesitzer in Tribuswinkel und
niederösterreichischer Landtagsabgeordneter) und Paul Freiherr von Gussich (nunmehr Leiter der Firma Furtenbach) die anderen drei Verwaltungsräte.
Im Illustrierten Wiener Extrablatt wird die Brauerei 1902 in höchsten Tönen gelobt:
Ihre Erzeugnisse setzt die Brauerei in Wiener Neustadt und Umgebung, in Puchberg und den nahen Städten Ungarns ab. Das Bier des Wiener Neustädter Brauhauses erfreut sich eines vorzüglichen
Renommees und gewinnt immer mehr Verbreitung. Die Brauerei besitzt bei ihrem Restaurant auch einen prachtvollen Restaurations-Garten, eine Sehenswürdigkeit von Wiener Neustadt, in dem die Biere
des Etablissements in ausgezeichnetster Qualität zum Ausschank gelangen. Die Leitung der Brauerei liegt in der Hand ausgezeichneter Fachmänner, die es verstanden haben, trotz der ungünstigen
Conjuncturen der letzten Jahre für den Brauereibetrieb im Allgemeinen, dennoch nicht nur mit Nutzen zu produciren, sondern auch durch Erzeugung eines mustergiltigen, vorzüglichen Bieres den
Absatz und so die Production zu erhöhen, so daß das auf reellster Basis aufgebaute Unternehmen zweifellos einem noch bedeutenderen Aufschwung entgegengeht.
Illustriertes Wiener Extrablatt 24. August 1902 Seite 16f, Quelle: ANNO/ÖNB
Blechschilder Wiener Neustädter Brauhof, Quelle: austria-bierglas-archiv.jimdofree.com
1903 wurde Dr. Karl Haberl jun. anstelle Max von Bernds neuer Verwaltungsrat. 1912 schließlich ersetzten der Wiener „Liegenschaftsbesitzer“ Eduard Jelinek und der ebenfalls aus Wien stammende „Realitätenbesitzer“ Dr. Richard Kastner die Verwaltungsräte Doblhoff und Gussich. Karl Haberl kaufte die Aktien auf, seine Frau Emma erhielt in der Firma die Prokura, der Wiener Neustädter Brauhof wurde also quasi zum Familienunternehmen.
Feststellen konnte ich auch noch, dass bei Gründung der AG Kasper Köhler Braumeister Wiener Neustadt war. Ihm folgte 1891 Rudolf Horner. 1894 wurde Franz Chrz, zuvor Braumeister der südböhmischen Stadt Tabor, neuer Braumeister. Er blieb hier fast 20 Jahre ehe er eine Brauerei in der mährischen Stadt Brtnice pachtete.
Der Konkurrenz der immer größer werdenden Großbrauereien war man aber auch in Wiener Neustadt kaum noch gewachsen. Der Erste Weltkrieg brachte eine weitere Zäsur, von der man sich nicht mehr erholte. 1926 schließlich, zu jener Zeit war Dr. Franz Haberl (ein Sohn Karls?) Eigentümer fast aller Aktien der Wiener Neustädter Brauhof AG, wurde der Betrieb von der Liesinger Brauerei übernommen und stillgelegt.
In Folge wurden alle Gebäude abgetragen. Nur der Braugasthof an der Adresse Bräuhausgasse 7 blieb bis 1990 als „Liesinger Brauhof“ bestehen. Er war in Wiener Neustadt sehr beliebt und betrieb auch eine Kegelbahn. In ihm bin ich in den 80er Jahren als Schüler der HTL Wiener Neustadt auch das eine oder andere Mal gesessen.
2001 erfolgte der Abriss der letzten verbleibenden Gebäudeteile. Wir wollen uns also jetzt auf die Suche eventuell noch vorhandener Spuren machen. Wir fahren dazu mit dem railjet nach Wiener Neustadt und haben damit eine kaum längere Anreise als zu so mancher Wiener Brauerei.
Zunächst gehen wir durch die Kollonitschgasse Richtung Innenstadt und biegen nach dem „Geldspeicher“ der Bank Austria nach rechts in den Ferdinand-Porsche-Ring. Bei Haus Nr. 2a erkennen wir ein altes Gemäuer. Es ist dies der Rest eines 1870 von Anton Dreher jun. von der Brauerei Schwechat errichteten Eiskellers. Das, heute zugemauerte, Portal ist noch gut zu erkennen. Der Eiskeller gehörte zur danebenliegenden „Dreher'schen Bierhalle“, die 1840 noch von seinem Vater Anton Dreher sen. eröffnet wurde. Ob damals noch das Ausschankverbot fremder Biere bestand, oder sich dieses nur auf das Gebiet innerhalb der Stadtmauer beschränkte, kann ich nicht sagen. Ob in diesem Eiskeller später auch Wiener Neustädter Bier eingelagert wurde kann nur vermutet werden.
Wir gehen ein Stück weiter und biegen links in die Dr.-Habermayer-Gasse bis wir auf die gut erhaltene Stadtmauer stoßen. Sie stammt aus der Zeit der Stadtgründung 1192 und wurde mit dem Lösegeld
für Richard Löwenherz finanziert. Wir gehen nach rechts durch die Beethovenallee bis wir die Bahngasse erreichen. Wir sind somit am westlichen Ende des Brauereigeländes angekommen.
Wir sehen die frisch renovierten Kasematten. Dort wo sich nun Ausstellungsflächen der Niederösterreichischen Landesaustellung befinden, war früher ein Lagerkeller für Gerste, Hopfen und Bier des
Wiener Neustädter Brauhofs. Zu meiner Schulzeit befand sich hier noch ein Gehege, in dem ein Bär sein trauriges Dasein fristete. Das Gehege wurde 2012 geschlossen. Wir gehen an der Stadtmauer
entlang weiter, hier sehen wir ein paar Grabsteine, darunter den ältesten hebräischen Grabstein Österreichs aus 1252.
Wir biegen bei der nächsten Gelegenheit links ab. Rechts sehen wir nun Tennisplätze. Hatte ich mich früher gefragt, warum diese so eigenartig tiefliegend angelegt wurden, weiß ich heute, dass sich hier bis 1975 der Eisteich der Brauerei befand. Linker Hand befand sich die Binderei und ein Stück weiter die Wagenremise der Brauerei. Dahinter sehen wir das Kapuzinerkloster. Es ist zwar fast so alt wie die Stadt selbst, verfiel aber in der Zeit der Reformation. 1623 erfolgte die Neuerrichtung, das Kloster ist somit ungefähr so alt wie die Brauerei. An der Mauer zum Kapuzinerkloster, lagen die Stallungen der Brauerei. Neben den Zugtieren der Fuhrwerke waren hier vermutlich auch Milchkühe eingestellt, denen man die Mälzereirückstände verfütterte.
Wir kommen nun zum eingangs erwähnten Hotel Garden Inn, es steht ungefähr dort, wo früher die Mälzerei war. Wenn wir zum ehemaligen Leiner-Parkplatz weitergehen, betreten wir vermutlich den früheren Gastgarten. An dessen Nordseite befand sich das eigentliche Brauereiareal. Wir finden zunächst ein paar Mauerreste des Brauhauses und einen Abgang zum ehemaligen Gärkeller, der mit einem schönen Mosaik gekennzeichnet ist. Ein Stück weiter, knapp vor der Lederergasse, sehen wir eine Erinnerungstafel an die alte Brauerei.
Der Torbogen über die Lederergasse mit der Aufschrift „Brauhof“ ist wohl am ehesten als Erinnerungsstück bekannt. Dieser wurde aber erst nach Stilllegung der Brauerei errichtet, als man die Stadtmauer an dieser Stelle einriss und die Straße durchs Brauereigelände anlegte. In den runden Einfassungen rechts und links des Bogens sind noch die dreiteiligen Kreise des Logos der Liesinger Brauerei erkennbar.
Wenn wir durch den Bogen gehen haben wir links das ehemalige Leinergebäude, das den Liesinger Brauhof nach dessen Abriss 2001 ersetzte. Rechts sehen wir einen kleinen Parkplatz. Hier schützt eine auffällige Dachkonstruktion ein paar Mauerreste der Stadtmauer. Vorrangig sollte hier wohl das freigelegte Fundament des ehemaligen Stubenberger-Turms bedacht werden, ich nehme aber an, dass man somit auch noch Bauteile der Brauerei vor dem Untergang bewahrt.
Die hier von der Lederergasse abzweigende Straße, trägt als weitere Erinnerung an den Brauhof den Namen Bräuhausgasse. Sie führte ursprünglich bis zum Garten des Kapuzinerklosters, zwischen ihr und der Stadtmauer befand sich das Brauereigelände. Wir folgen der Bräuhausgasse nach Osten entlang jenes Areals der Zeughauskaserne, auf das sich die Brauerei anfänglich ausdehnte. Rechts sehen wir weitere alte Mauern. Ob sie noch von der Brauerei stammen kann ich nicht feststellen.
Den Nachfolgebau der Zeughauskaserne steht am Ende der Bräuhausgasse. Die Zeughauskaserne selbst wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und verfiel zusehends, bis sie zum Beginn der
1950er-Jahre einem Neubau weichen musste. Lediglich zwei prächtige Renaissanceportale sind an der Ost- und Nordfassade erhalten geblieben.
Wiener Neustädter Bier gibt es nunmehr keines mehr zu verkosten. Selbst die Produktion eines unter diesem Namen von Braumeister Peter Döllinger ab 2014 in der Brauerei Kobersdorf gebrauten Bieres, wurde Anfang dieses Jahres wieder eingestellt.
Somit wenden wir uns zum Abschluss der Besichtigung dem rund 1 km entfernten Ungar Bräu (Neudörfler Straße 1) zu. Der Name und das Ambiente täuschen ein wenig, hier wird und wurde nie Bier
gebraut. Dennoch befindet sich das 2018 eröffnete Lokal in einem historischen Gebäude. Es wird in dem um 1900 errichteten ehemaligen Eingangspavillion des Ungarbades betriebn, womit das Gemäuer
noch aus der Bestandszeit des Wiener Neustädter Brauhofs stammt. Das „Hausbier“, ein Ottakringer Rotes Zwickel, schmeckt jedenfalls bestens.
Quellen
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https://books.google.at/books?id=KpQAAAAAcAAJ&pg=PA77
http://www.initiative-denkmalschutz.at/denkmail/Denkmail_Nr_10_web.pdf
http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wrz&datum=18690924&seite=15&query=Brauhof
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https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stra%C3%9Fennamen_von_Wiener_Neustadt
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https://www.zobodat.at/pdf/Jb-Landeskde-Niederoesterreich_59_0027-0053.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_denkmalgesch%C3%BCtzten_Objekte_in_Wiener_Neustadt
https://www.wieneralpen.at/alle-gastronomiebetriebe/a-ungarbraeu
https://www.kolarik-leeb.at/blog-entry/frueher-bad-heute-braeu.html
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